Heiner Szamidas konkrete Kunst des Materials und die Problematik des Zeitgenössischen

von Daniel Spanke

In einer Umfrage, die die Kunstzeitung in ihrer Ausgabe vom Mai 2002 veranstaltet hat, wurden verschiedene Prominente der Kunstszene um ihre Meinung zur konkreten Kunst gebeten. Das Spektrum de Antworten reichte dabei vom vehementem Anachronismusvorwurf (Eckard Schneider) bis zur Prophezeiung neuer Aufmerksamkeit und Wertschätzung (Sigrid Wack). Fest steht, dass Künstler sich dieser „Weltsprache“ unter den künstlerischen Dialekten durchgehend bedient haben und zwar auch abseits der wechselnden Aufmerksamkeiten des Kunstmarktes für aktuelle Tendenzen. Zu diesen Künstlern gehört auch Heiner Szamida, dessen Radikalität, sich über 25 Jahre in einem von ihm selbst eng abgesteckten und darin fast mikroskopisch erschlossenen künstlerischen Feld zu bewegen, viel mit dem Habitus künstlerischer Entschlossenheit und Beharrlichkeit gemeinsam hat, die man gerne mit konkreten Künstlern verbindet. Der Schweizer Künstler Camille Graeser hat 1944 konkrete Kunst folgendermaßen skizziert:

„Konkret
heisst Verzicht auf Darstellung einer optischen Gegenstandswelt
in der Kunst.
Konkret
heisst eine neue, klare Bildwelt gestalten.
Konkret
heisst bauen, konstruieren und entwickeln von Rhythmen auf
geometrischer Grundlage.
Konkret
ist streng logisches Schaffen und Gestalten von Kunstwerken,
die Eigengesetzlichkeit haben.
Konkret
ist das Spiel von Mass und Wert, von Farbe, Form und Linie.
Konkret
heisst Ausschaltung alles Unbewussten.
Konkret
ist der sichtbar gestaltete malerische Klang ähnlich der Musik.
Konkret
heisst Reinheit, Gesetz und Ordnung.“

Diesen nun 65 Jahre alten, fast gedichtförmigen Text kann man auch heute noch dem aktuellen Werk Heiner Szamidas voranstellen, denn der Künstler
verzichtet 1. auf gegenständliche Darstellung,
präsentiert in seinen Werken 2. ein ganz eigentümlich gestaltetes und überschaubares Anschauungsfeld,
verwendet 3. flächige und mathematisch beschreibbare Formen und Abfolgen solcher Formen,
lässt in seinen Arbeiten 4. die Folgen der Strukturierung durch das Material und durch das künstlerische Konzept der Eingriffe in dieses Material sichtbar werden,
bringt 5. beide Strukturen, die des Materials und die seiner Eingriffe, in ein Wechselverhältnis von Regel und Zufall,
thematisiert 6. keine persönlichen oder autobiografischen Gedanken,
setzt 7. dem „weißen Rauschen“ seiner Materialien die taktsetzende Kraft seiner Arbeit entgegen
und erweitert 8. Begriffe von Reinheit, Gesetz und Ordnung durch solche bisher unbekannter, willkommener Werkwirkung.

Bevor Heiner Szamida vor genau 25 Jahren in sein Atelierhaus im Gelsenkirchener Halfmannshof gezogen ist, hat er einige Bilder geschaffen, die serielle, sich also wiederholende Strukturen aus einem ungewöhnlichen Material – Nadeln – ausbilden. Diese Strukturen sind reihen- oder auch zeilenförmig organisiert und nehmen daher Kontakt zu Vorstellungen von Geweben oder sogar auch Texten auf. Auch ein Text ist schon von der Herkunft dieses Begriffes her mit dem gewebten Stoff (lat. textum) verwand und von Textur spricht man auch alternativ zu Struktur. Doch was gibt es hier zu lesen? Gegen die Tradition des informativen Lesens bietet sich das Bild auf einmal, simultan dar. In der Tat klebt Szamida die Nadeln dabei dicht an dicht, ohne Überscheidungen auf den Untergrund, so dass sich eine ebene Oberfläche ergibt. Um überhaupt ein Bild, und dass heißt vor allem eine Bildfläche zu bilden, setzt er der Form der Nadel als langgestrecktem Element, als materialisiertem Strich mit verdicktem Punkt am Ende sozusagen, die horizontale Reihung nebeneinander entgegen. Auch das entspricht eher der Tätigkeit des Webens, bei der die Fäden durch eine Art „selbstfixierendes Nebeneinanderbringen“ zur Bildung einer Fläche gebracht werden, als etwa der Tätigkeit des Malens, bei der der Pinsel frei über die Oberfläche geführt werden kann. Der Künstler setzt dabei jedoch die Nadel nicht in ihrer Bestimmung als Nadel ein, durchstochen wird hier, anders etwa als häufig bei Günther Ueckers Nagelobjekten, nichts, sondern sie wird zu einem rein ästhetischen, formalen Wert entfunktionalisiert, so wie ein Maler seine Farben benutzt. Eine vermalte Farbe ist nur dazu da, ihren Farbton, ihre rein ästhetische Wirkung, zu entfalten. Als Stoff mit materiellen Eigenschaften wird sie dagegen kaum noch wahrgenommen. Weil Szamida die Nadeln also als eine Art Farbe seines Bildes benutzt, könnte man hier deshalb von einer Art „Ding-Malerei“ sprechen. Das Ergebnis ist wie in der Tafelmalerei ein Bild im Sinne eines simultan sich dem Sehen darbietendes Feld rein ästhetischer Erfahrung. Doch Szamidas Werke werden durch die Verwendung von fertig vorhandenen Objekten sogar noch in ihrem „konkreten“ Charakter betont – in den Nadelobjekten ist eben jedes Element auch tatsächlich eine Nadel, nicht nur eine gemalte Form, die nach dem Entwurf des Künstlers auch ganz anders aussehen könnte. Szamida lässt die Form der Nadel dabei selbst zu einer Art „Programm“, zum Konzept für sein Bild werden. Denn ihre spezifische Gestalt mit Nadelkörper, Nadelspitze und Nadelkopf führt bei dieser Anordnung wie von selbst zu einem rhythmisierten Ornament: Da die Nadeln oben im Umfang naturgemäß dicker sind als an ihrem Ende, zwingen sie die dicht neben sie gesetzten zu einer „Neigung“ aus der Senkrechten. Indem der Künstler also nichts anderes tut, als die Fläche dicht an dicht mit Nadeln zu belegen, bringt er ein ihnen selbst innewohnendes Muster zum Vorschein. Das Bild wird von Szamida gleichsam zu einer Versuchsplattform bestimmt, die formalen Eigenschaften eines Gegenstandes unserer Alltagswelt und ihre Konsequenzen für ein Miteinander zu untersuchen und sichtbar zu machen.

Man kann nun nach der kulturhistorischen Bedeutung des Ornamentes, das in der Moderne doch häufig als belanglose und entbehrliche Dekoration abgewertet worden ist, für die moderne Kunst fragen. Dieses Feld ist bestens bestellt – es gab mehrere Ausstellungen und Untersuchungen zu dem Thema. Man könnte dazu sehr verkürzt sagen, dass das Ornament, das Heiner Szamida uns in diesen Nadelobjekten vorstellt, jener Art entspricht, die der Architekt Adolf Loos, der das berühmte Verdikt „Ornament ist ein Verbrechen“ formuliert hat, sehr wohl zugelassen hat: die nämlich aus der Eigenschaft der Werkentstehung und der Werkmaterialien selbst sich bildenden Muster und eben nicht jene, die der bloßen und höchste entbehrlichen Dekoration dienen. Nun könnte man einwenden, dass auch Szamida die Nadeln einer nun verdeckten, reinen Fläche aufgeklebt und ihr deshalb eine Art metallenen Schmuck aufgebürdet hat. Jedoch hat auch Loos Wände mit edleren Materialien verkleidet, und das spezifische künstlerische Interesse von Heiner Szamida gilt eben nicht der möglichst gereinigten Form, sondern den verborgenen, dennoch eigenen, erst im Werk sichtbar werdenden und deshalb überraschenden Qualitäten seines Werkstoffes. Diese Thematisierung des Werkstoffes durch Heiner Szamida ist ein besonders fruchtbares Feld für die Reflexion, entsprießt ihr doch nicht nur sein weiteres Werk, sondern ist hier auch sein ganz eigener Beitrag zur Kunst der Konkreten zu finden.

Der konkreten Kunst liegt eine Verlagerung des künstlerischen Handelns vom kunstvollen Herstellen einer vorzustellenden Einfühlungswelt weg und hin zum sinnlichen Umsetzen eines Nachdenkens über die wahre Natur des Bildes und des Bildlichen. Die Anfänge dieses Wandels sind bereits in der Malerei der französischen Impressionisten, von Paul Cézanne, den Nabis und Paul Gaugins zu finden. Sie reduzierten den Illusionismus des Abbildes bereits entscheidend, indem sie das elementare Bildmittel des Farbflecks auf der Malfläche als Bauelement ihrer Bildwelt sichtbar beließen und dies mit sehphysiologischen Argumenten begründeten. Am Werk eines Malers wie Piet Mondrian (1872-1944) oder Adolf Hölzel (1853-1934) lässt sich der schrittweise Übergang vom stimmungsvollen Abbild, bei ihnen vor allem Landschaften, zum Bild, dessen Grundlagen und Eigenschaften selbst Thema der Darstellung werden, hervorragend und geradezu mustergültig nachvollziehen. Während Hölzel der wohl erste war, der den Begriff des Bildes überhaupt kunsttheoretisch thematisiert und die Forderung aufgestellt hat, die Mittel der bildenden Kunst selbst müssen als kunstschaffende Kräfte erkannt und gestaltet werden , stammt aus dem Umfeld von Piet Mondrian, nämlich von dem Künstler Theo van Doesburg, Begriff und Definition der konkreten Kunst.

Van Doesburg mag den Begriff zwar schon 1924 geprägt haben, schriftlich dokumentiert wurde er erst in einem programmatischen Text, der einer von van Doesburg und anderen herausgegebenen Zeitschrift 1930 erschien:
„Konkrete Malerei, nicht abstrakte, weil wir die Zeit des Suchens und der spekulativen Experimente hinter uns gelassen haben.
Auf der Suche nach Reinheit waren die Künstler gezwungen, die natürlichen Formen, die die bildnerischen Elemente verdeckten, zu abstrahieren, die Naturformen zu zerstören und sie durch Kunstformen zu ersetzen.

Heute ist die Idee der Kunstform ebenso überholt wie die der Naturform. Mit unserer Konstruktion der geistigen Form hebt die Epoche der reinen Malerei an. Sie ist die Konkretisierung des schöpferischen Geistes. Konkrete Malerei, nicht abstrakte, weil nichts konkreter, nichts wirklicher ist als eine Linie, eine Farbe, eine Fläche.
Sind auf einer Leinwand eine Frau, ein Baum oder eine Kuh etwas konkrete Elemente? Nein.

Eine Frau, ein Baum und eine Kuh sind konkret in der Natur, aber in der Malerei sind sie abstrakt, illusorisch, vage, spekulativ; eine Fläche hingegen ist eine Fläche, eine Linie eine Linie, nicht mehr und nicht weniger.

Konkrete Malerei. – Der Geist hat den Zustand der Reife erreicht. Er benötigt klare intellektuelle Mittel, um sich in konkreter Weise zu manifestieren.“

Dabei ist nicht nur eine weitere Stilrichtung unter anderen Stilen gemeint, sondern eine neue und zutreffendere Bestimmung der Kunst selbst. „Konkret“ wird vielmehr zu einem Signum der Wahrhaftigkeit des Kunstwerks – alles andere ist Lüge und Täuschung. Die Argumentation ist grundsätzlich und dreht nichts Geringeres als den Ursprung aller Bild- und Kunstkritik, Platons Radikale Abwertung der Nachahmung als Schwundstufe des Sein in seiner Schrift politeia, um. Da Doesburg Kunst eben als Gegenteil von Nachahmung bestimmt, sei sie wahrer als die Wirklichkeit, nämlich eine „Konkretisierung des schöpferischen Geistes“, der Ideen könnte man platonisch formulieren, selbst. In der Tat kann darin wiederum eine Tendenz zur Abstraktion im Sinne einer Entmaterialisierung und Vergeistigung des Kunstwerks und seines Sinns begründet liegen. Nicht umsonst ist die konkrete Kunst vor allem ein Idiom der Malerei; die allermeisten konkreten Künstler sind vor allem Maler. Denn die reine Farbwirkung, deren Erforschung in vielen konkreten Konzepten eine große Rolle spielt, ist zwar konkret zu beobachten, aber etwas tendenziell immaterielles. Yves Klein hat dazu ein ganzes künstlerisches Lebenswerk geschaffen. Und das Immaterielle wird dabei in fast gnostischer Weise dem Geistigen, Erkenntnishaftem zugeordnet und dadurch das Körperliche dem Wesentlichen der Kunst entgegengesetzt. Selbst die deutlich selteneren Werken konkreter Plastik, etwa von Max Bill oder von François Morelett, thematisieren kaum ihren Werkstoff, sondern setzen geometrische Beziehungen im dreidimensionalen Raum ins Werk und tendieren ins Entstofflichte, wenn sie, wie häufig bei Bill spiegelglanzpolierte Marmor- oder Metalloberflächen präsentieren. Dies wird auch dort sichtbar, wo in der Bildkunst die Grenzen der zweidimensionalen Bildfläche zugunsten reliefhafter oder objektartiger Werkformen überschritten werden. Oft wird diese Überschreitung selbst zum Thema des Bildes, am markantesten vielleicht bei dem auch im Kontext der konkreten Kunst diskutierten Lucio Fontana, der die Leinwand mit Schnitten und Perforationen zu einem konkret vorhandenen aber dennoch unauslotbaren Dahinter öffnete. Aber auch bei Enrico Castellani ist es vor allem die Bildfläche selbst, die mittels Nägeln, die die Leinwand wie eine körperliche Haut nach vorne drücken oder einstülpen, rhythmisch modelliert. Szamidas Nadelobjekte bleiben dagegen einerseits in der Bildfläche und entkörperlichen die Nadel zu einer reinen Form, entwickeln den Rhythmus der Struktur aber konsequent aus dieser zur Schau gestellten konkreten Form der Nadel selbst. Dieses entgegenständlichende Zurschaustellen eines Alltagsgegenstandes ist wohl am besten vergleichbar mit den „Kaufhausobjekten“ des in seinen frühesten Jahren ebenfalls Umfeld des Halfmannshofes arbeitenden Rolf Glasmeier, der aus metallenen Kleiderbügelhaltern oder aus Fenstergriffen, etwa so genannten Ganzoliven, Bildwerke schuf, deren strenge Reihung ebenfalls zu überraschenden Formationen führen können. Im Unterscheid zu Glasmeier, der sich im Laufe seines weiteren Werkes dann ganz anderen Feldern gewidmet hat, durchzieht das Erkenntnisinteresse an einem Werkstoff „konkretetypisch“ jedoch sehr nachhaltig Szamidas Œuvre.

Szamidas Interesse an den Formqualitäten seines Arbeitsmaterials wird noch deutlicher, als er mit dem Einzug in den Halfmannshof und beim eigenhändigen Umbau seines Atelierhauses auf den Werkstoff stößt, der ihn bis heute künstlerisch am meistens reizt und anregt: Spanholz. Das Jahr 1984 markiert also in der Tat ein wichtiges Datum für sein Werk. Spanholz ist ein Material vor allem der Bau- und Möbelindustrie, das die Holzausbeute des Baumes erhöht, weil auch Abfallholz verwendet werden kann und das gegenüber massivem Holz noch einen ganz entscheidenden Vorteil hat: es hat standardisierte, verlässlich gleichbleibende Eigenschaften und arbeitet kaum. Denn durch die Zerspanung und anschließende Wiederverleimung werden die Kräfte, die sonst im Holz wirken und es zum Beispiel zum Wölben oder Reißen bringen, aufgehoben. Allerdings findet der Abnehmer das Material optisch meist zu wenig attraktiv und so wird es im Möbelbau unter Funieren kaschiert oder im Innenausbau mit modisch wechselnden Wand- und Bodenbelägen verdeckt. Heiner Szamida stellt dieses „arme“ Material in seiner Kunst in den Fokus der Aufmerksamkeit und schärft damit unseren Blick für die Eigenschaften, Wahrheiten und die Qualitäten dieses unsere Umgebung sehr massiv mitgestaltende Material. Eine ähnliche Widmung eines künstlerischen Œuvres an einen solch armen, industriellen und modernen Werkstoff ist eventuell noch bei Ferdinand Spindel zu beobachten, der Objekte aus geknülltem Schaumstoff schuf und eine Generation vor Heiner Szamida im Halfmannshof lebte und arbeitete. Wird bei dem von Szamida sehr geschätzten Spindel das Material jedoch verformt und in einen gewissen Gegensatz zwischen organisch wirkender Struktur und künstlich-künstlerischer Herkunft und Anwendung gebracht, baut Szamida seine Bilder und Objekte mit einem Stoff, der zum Bau fester Strukturen auch gedacht ist. Das Spanholz wird gleichsam intendiert und eher unspektakulär von Szamida eingesetzt: sägen, fräsen, ausarbeiten von Nut und Feder, brechen, beizen, kleben entsprechen auch dem Bearbeitungsspektrum des mit Spanholz arbeitenden Tischlers. Doch gerade durch diesen Verzicht, das Material völlig zu transformieren, lenkt der Künstler die Aufmerksamkeit auf die Qualitäten des Werkstoffes; seine Bearbeitung ist nur ein Teil des Werkes, Szamida lässt dem Spanholz in seinem Kunstkonzept Platz, seine eigenen ästhetischen Kräfte zu entfalten. In den Spanholzobjekten ist Szamida also kein „konkreter Ding-Maler“ mehr, sondern eher eine Art „Bildbaumeister“, der seinen Werkstoff sprechen lässt.

So stehen Szamidas formale Eingriffe eher gleichberechtigt neben dem zur Schau gestellten Spanholz. Dessen chaotischer Struktur setzt der Künstler die rationale Struktur geometrischer Formen entgegen. Oft handelt es sich dabei um das Quadrat, eine der radikalen Elementarformen im Vokabular der Moderne, bei der alle vier Seiten absolut gleich sind. Szamida unterbricht die prinzipiell unendliche Kontinuität der Spanholzstruktur durch Schnitte, die quadratische Formen ergeben, die Szamida wieder neu zu einem Plattenobjekt zusammensetzt. Aus der äußersten Unvorhersehbarkeit, wie die Spanholzpartikel auf der Oberfläche ausgerichtet sind, setzt einerseits Szamida durch das exakte Schneiden in Quadrate die äußerste Vorhersehbarkeit der Form entgegen und setzt diese Quadrate dann wieder in einer nicht vorhersehbaren Abfolge zusammen, die alle zusammen dann oft wieder ein Quadrat ergeben. Wie schon anfangs erwähnt, wäre dies ins Musikalische übersetzt etwa das Paradoxon einer Art streng strukturierten weißen Rauschens. Das Material Spanholz wird also hier nicht nur benutzt, um damit eine Form zu bauen und zu bilden, sondern es wird gleichsam selbst zum Thema des Bildes und der anschauenden Reflexion des Betrachters. Zusätzlich bringt der Künstler durch seine Eingriffe in einigen Objekten eine tatsächlich innere Eigenschaften des Spanholzes zum Vorschein: zumeist wird dieses nämlich mit einem lockereren, grobspanigeren Kern und verdichteter, feinteiligerer Deckschicht hergestellt, was die Verarbeitungseigenschaften verbessert. Szamida bricht die fertigen Platten auf und verarbeitet das Spanholz dann quer zur Oberfläche, so dass sichtbar wird, was sonst verborgen ist. In serieller Anordnung kommt so ein innerer Rhythmus verschiedener Zonen im „Leib des Bildes“ zum Vorschein. Das sonst so verachtete Spanholz wird in Szamidas Werk in seinen einzigartigen und im Kunstwerk herausgestellten Qualitäten besonders wertgeschätzt und so erscheint das Material schon selbst im und durch das Kunstwerk schön. Die Erkenntnis, die es stiftet, ist vor allem eine Körpererkenntnis, ist auf die Leiblichkeit dieses Stoffes bezogen und nicht davon zu abstrahieren. Die kulturellen Wurzeln dieser „Geistigkeit des Leibes“ sind dabei zweifellos im spezifisch abendländisch-christlichen Kontext zu suchen – ohne die religiöse Idee einer Erlösung des Menschen durch den Leib (Christi) und mit dem Leib (Auferstehung) ist die besondere Wertschätzung der Qualitäten des Stofflichen kaum zu denken.

Heiner Szamida ist in seinem Werk sehr streng geblieben, nur vergleichsweise sehr zaghaft erweitern sich Szamidas Bildobjekte in den Raum hinein, und doch lotet er sein von ihm definiertes künstlerisches Feld in sehr vielfältigen Bewegungen aus. In den verschiedensten Arbeiten wird das Spanholz aufgebrochen, gesägt, in unterschiedlichen Formen wieder zusammengefügt, seine spezifische Struktur durch Beizen verdeutlicht, auf Papier abgerieben und wieder aufgeklebt, sein Bruchverhalten an Kanten gezeigt oder die Vielfalt seiner Erscheinungsformen präsentiert, etwa wenn der Künstler selbst Spanholz herstellt, indem er Holzspäne zu Presskuchen zusammenbäckt und dann aufschichtet oder weiterverarbeitet. Man muss freilich konstatieren, dass Szamida den konkreten Movens vergleichsweise spät aufnimmt, nicht weil er ihn erst spät entdeckt hätte, sondern weil er für die Konkrete Kunst, deren Anfänge im frühen 20. Jahrhundert zu finden sind, erst spät geboren wird. Er hat sich als junger Künstler entschieden, diese damals schon entwickelte Sprache der Konkreten Kunst zu sprechen. In der ganz aktuellen Kunstszene ist allerdings zu beobachten, dass es nach der ungeheueren Aufbruchstimmung der 1960er und 70er Jahre, in der „das Bild“ in viele Dimensionen hin geöffnet wird – sei es zum Film in der Videokunst, sei es zum Theater in Perfomances, sei es in den Raum hinein in Installationen – die Kunst in einem breiten, manchmal allerdings auch recht seichten Fluss dahinströmt, der alle bisher erreichten Ufer gleichzeitig in den Blick kommen lässt. So ist es, nachdem alles in der Tat schon einmal gemacht worden ist und wir dies alles auch dank des Betriebssystem Kunst mit seinen Ausstellungen und Publikationen nahezu gleichzeitig erinnern können, kein Wunder, dass es für manche jüngeren Künstler auch wieder interessant zu sein scheint, überraschend klassisch anmutende Positionen einzunehmen, so etwa Tomma Abts, Liam Gillick, Bernd Ribbeck oder Anselm Reyle. Heiner Szamida gehört jedoch einer Generation von Künstlern an, die sich ihre Haltung durch die Zeiten bewahrt hat und die damit zwangsläufig eine Zeit lang auch anachronistisch werden musste, um ihren eigenen Weg konsequent und beeindruckend unbeirrt zu gehen. Ich habe die Vermutung, dass die immer schneller werden Trends auf dem Kunstmarkt, in dem Heiner Szamida nie eine nennenswerte Rolle gespielt hat, einen solchen beharrlichen „Durchhalter“ schlichtweg von hinten wieder einholen könnte. Die Kunstgeschichte verläuft eben nicht mehr als eine Entwicklung, in der es Fortschritt und zurückgebliebene Epigonen gibt, vielleicht gehört dies ja sowieso zu den Mythen der Moderne. Vielmehr bringt eine alt gewordene Erfahrung mit der Moderne auch einen veränderte Perspektive auf Kunstgeschichte hervor, in der Künstler wie Heiner Szamida eine wichtige Rolle spielen könnten: indem sie gegen alle Trends auf ihrem Recht eines eigenen Lebenswerkes, das länger dauert als eine Markttendenz, bestehen, bringen sie die eine neu zu erringende Freiheit der Kunst, nämlich die von ihrer eigenen Zeitgebundenheit zum Ausdruck. Die analytische, gestaltete Wertschätzung eines bestimmten industriellen Stoffes ist Heiner Szamidas eigener Beitrag zur Kunst in der Sprache der Konkreten. Mit der „Kunst der 1980er“, „90er“ oder der zur Zeit aktuell gesetzten Kunst hat das aber kaum etwas zu tun. Gute Kunstwerke, und diese versuchen wir in der Kunstgeschichte zu sammeln und erinnernd zu bewahren, sind durch alle Zeitgenossenschaft hindurch aktuell. Eine vom Zwang zum Zeitgenössischen befreite Kunst macht darauf aufmerksam, dass die Kunst immer etwas Überzeitliches ist. In diesem Sinne muss der Betrachter in jedem Kunstwerk das Zeitgenössische auch überwinden können. In Szamidas Arbeiten findet es, wenn wir sie schätzen wollen, gar nicht erst statt. Dieses Nicht-Zeitgenössische ist der konkreten Kunst allerdings immanent: sie handelt von stets gültigen Bezügen unter den Elementen der Welt und formuliert sie auch als solche. Die konkrete Kunst, wie die Heiner Szamidas, stellt heute deshalb die wichtige Frage, ob es zeitgenössische Kunst überhaupt gibt.